Endlich Zuhause

Wolf fühlte sich wie das 23. Kind beim Fußball, das immer Schiedsrichter sein muss, weil es stakst, bis es auch nicht mehr das sein darf, weil es zu unparteiisch ist. Aber was hätte er sagen sollen? Dass es nicht mehr nötig sei, Robert von Martin Walser zu unterscheiden? Oder hätte es gereicht, kein Problem mit “Zigeunerschnitzel” zu haben? Und früher oder später auch mit “Negerkuss”? Das seien keine Formalien, sondern eine Art des Lebens, zu der nun mal Respekt gehöre, hatte Wolf gesagt. 

Nun stand er auf der Straße, mitten im November, in einer Dunkelheit, die sich von der Dunkelheit des Tages kaum unterschied, und fühlte sich wie das Kind, das er vor fast sieben Jahrzehnten gewesen war. Als wäre das nicht demütigend genug, traf er auf dem Weg nach Hause auch noch Weber vom Institut. Der schien sich über die Begegnung jedoch ehrlich zu freuen und lud ihn sogar ein: Der allmonatliche transkulturelle Musikabend werde heute von georgischen Studenten ausgerichtet, die ihn mit einem Dinner verbinden würden, und er, Wolf, habe doch so oft von dem guten Essen in Tiflis erzählt. 

Der Musikprofessor im Ruhestand dachte an Chinkali und Andria Balantschiwadse, außerdem konnte der Abend kaum schlechter werden. Auf dem Weg deutete er die Walser-Debatte an, worauf Weber antwortete: “Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch von Musik nichts.” Das verbesserte Wolfs Stimmung deutlich, und als er den sonst kargen Institutsraum betrat, den die Georgier mit Kerzen, Tüchern und bezaubernden Porzellan in einen Festsaal verwandelt hatten, kam das Lächeln wie von selbst.

Vor den Fenstern ahnte Wolf die Bauern, die schon Madame Bovary beobachtet hatten, aber hier war es warm und im Hintergrund sang Rashid Behbudov “Ayrilik”. Er setzte sich auf einen Stuhl am Rande der Tafel, und einen Moment später ließ sich ein junger Mann neben ihm nieder, der sich als Eldar vorstellte und ihm die Geschichte der großen Suppenterrine in der Tischmitte erzählte.